Ich war noch nie in Indien. Matthias Torggler, der Mitarbeiter des Hinzen Privatkontors, der mich als Manager, Übersetzer und gute Stütze auf der langen Reise begleitet hat, ebenfalls nicht. Auch wegen der Pandemie ist es sehr lange her, dass überhaupt jemand aus unserer Gemeinschaft in Indien war. Unser Ziel war es deshalb, möglichst viele Khristsevikas (Christusdienerinnen) zu treffen. Deshalb haben wir uns gemeinsam in ihrem Zentrum in Pune verabredet. Die Vorfreude war sehr groß! Ich habe mich schon seit Monaten sehr auf den Austausch gefreut, auf ihre Ideen und Vorstellungen, ihre Sorgen, ihre Suche und ihre Sehnsüchte. Und darauf, sie wieder zu sehen bzw. einige von ihnen persönlich kennenzulernen…
Die Khristsevikas: eine besondere Form des Ordenslebens
Schon im Jahr 1965 haben wir, die Hildegardisschwestern, im Geiste unseres Gründers Pater Panzer gemeinsam mit den Theresienschwestern in Indien ein selbstständiges Säkularinstitut für Frauen ins Leben gerufen. Mehr zur Gründungsgeschichte kann man hier auf unserer Internetseite erfahren.
Die Frauen nennen sich Khristsevikas, auf deutsch: „Christusdienerinnen“. Sie leben und arbeiten „ganz normal“ in der Gesellschaft, die meisten von Ihnen in sozialen Berufen, z.B. als Sozialarbeiterinnen, in NGOs oder als Lehrerinnen. Sie tragen kein Ordenskleid und auch nicht den Titel „Schwester“. Die Idee geht auf die Bibel, Mt. 13.33, zurück: „Und er (Jesus) erzählte ihnen noch ein Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es wie mit dem Sauerteig, den eine Frau unter einen großen Trog Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war.“ Das bedeutet: Der Sauerteig ist im Teig nicht zu sehen. Doch er durchsäuert und verändert den ganzen Teig. Genauso arbeiten die Khristsevikas in der Gesellschaft. Sie predigen nicht aktiv die Frohe Botschaft Jesu, sondern sie leben sie als Christinnen unter Christen und in einer multireligiösen Gesellschaft.
Viele Khristsevikas bekommen für ihre Arbeit kein Gehalt. Sie leben von den Spenden, die an das Säkularinstitut fließen, u.a. von den Hildgardisschwestern und die Theresienschwestern, denn wir haben unsere „Christusdienerinnen“ von Anfang an finanziell unterstützt. Zurzeit gibt es zehn Mitglieder – und ein reges Interesse von vielen jüngeren Frauen an der Gruppe.
Mein Reisetagebuch
23.1.2023: Erwartet und gesegnet
Wir landen nach ca. zehn Stunden Flugzeit mit der Air India in Pune und werden schon von Ms. Crispina und Ms. Regina erwartet. Nach der ersten herzlichen Umarmung hängen sie mir zur Begrüßung einewunderschöne und wunderbar duftende Blumenkette aus echten Blumen um – Matthias bekommt einen wunderschönen Blumenstrauß.
Unsere erste Fahrt führt uns zu unserem Hotel in der direkten Nachbarschaft des Haupthauses und Zentrums der Khristsevikas. Dieses Zentrum heißt „Vardan“, was so viel heißt wie „Segen“. Wer also hier ankommt, soll gesegnet sein. Im Haus werden wir von weiteren Mitgliedern der Gemeinschaft herzlich begrüßt.
Eigentlich sind wir von der langen Reise und der Zeitumstellung etwas erschöpft. Aber unsere Gastgeberinnen haben sich etwas Besonderes überlegt: Wir feiern gemeinsam das Fest Vinzenz Pallottis nach, denn auch die Khristsevikas berufen sich auf seine Spiritualität. Der Feiertag war eigentlich am Vortag, doch sie wollen es gemeinsam mit uns begehen. Deshalb haben sie die Feier auf den Tag unserer Ankunft verschoben.
Drei junge Pallottinerpater, die in Pune studieren, feiern dann mit uns und 50 weiteren Gästen die Messe. Ein bewegter und bewegender Gottesdienst, den ich trotz meiner nicht so guten Englischkenntnisse verstanden habe, denn in der Predigt kann ich die Begeisterung für Vinzenz Pallotti und seine Idee richtig spüren. Nach dem Gottesdienst gibt es ein Kennenlernen bei einem Gesellschaftsspiel, danach findet das gemeinsame Abendessen statt. Hierfür ist auf der Terrasse ein Buffet mit köstlichen indischen Speisen aufgebaut, alle sind eingeladen. So werden noch an diesem Abend aus Fremden Freunde. Wir erleben direkt an unserem ersten Tag Geschwisterlichkeit und eine echte Gemeinschaft, die uns sehr glücklich macht.
28.1.: Reise nach Thanjavur
Mathias und ich fliegen mit der Leitung der Gemeinschaft, der Präsidentin Crispina D’Costa und der Ökonomin Regina Silvias nach Thanjavur. Hier wollen wir das Schulprojekt besuchen. Clara Mary, Lima Grace, Helen und Virginia, die im Tamil Nadu arbeiten und alle zum Fest nach Pune gekommen waren, fliegen mit. Nach drei Stunden Flugzeit und einem dreistündigen Zwischenstopp in Chennai werden wir am Flughafen Tiruchirappalli von einem Verwandten von Virginia abgeholt, der im Schulprojekt arbeitet. In der einstündigen Fahrt zur Schule bekommen wir einen guten Eindruck von der wunderbaren grünen und fruchtbaren Landschaft rund um Thanjavur.
In einer Stunde Fahrzeit bis zur Schule, wo Virginia und Helen auch wohnen, bekommen wir einen Eindruck von der beeindruckenden Gegend und verstehen, warum der Distrikt Thanjavur auch „die Reisschüssel Indiens“ genannt wird. Man kann nicht nur Reisfelder sehen, sondern Palmen und Papaya-, Mango-, Ananasbäume und viele Pflanzen, die ich vorher noch nie gesehen habe. Ein grünes Paradies. Leider ist die Gegenseite, also Armut und Schmutz, auch allgegenwärtig.
Als wir im Hotel in Thanjavur ankommen, ist es schon dunkel. Nach dem Abendessen und Absprachen mit Virginia und Helen, den Schul- und Projektleiterinnen, gehen wir in unsere Zweibettzimmer. Dort wartet eine kleine Überraschung: Ein Baderaum mit WC, Waschbecken und einer kleinen Handdusche seitlich am WC – ohne Duschkabine. „Interessant…“, denke ich und versuche, mich irgendwie mit der Handdusche und kaltem Wasser zu duschen. Danach ist der Boden im Badezimmer völlig überflutet. Ich berichte meiner Mitschwester davon, doch die sagt: „Das ist so, man kann es nicht anders machen.“ „Ok…“, denke ich.
Erst als wir zurück in Pune waren und dort in einem Zimmer im Vardan, dem Haupthaus der Khristsevikas, wohnen, weiht mich eines der Mitglieder in die Geheimnisse der indischen Duschen ein: Diese sind ganz oben an der Wand unter der Decke angebracht – ohne Kabine und Vorhang. Immerhin gibt es hier einen Kehrbesen, um das Wasser in den Abfluss zu kehren. Auch daran gewöhnt man sich! 😉
29.1.: Besuch des Schulprojekts
Heute besuchen wir die Primar- und Sekundarschule der Khristsevikas. Dafür werden wir von unserem Fahrer nach dem Frühstück abgeholt und direkt in die Grundschule gebracht.
Dort haben Leitung, Lehrer und Kinder einen riesigen Empfang für uns vorbereitet! Am Eingang bekommen wir von Virginia und Hellen Begrüßungsketten umgehängt.Von einer Lehrerin bekommen wir einen farbigen Punkt auf der Stirn getupft, der Zeichen des Willkommens, des Respekts und der Ehre ist. Danach werden wir auf die Bühne geführt. Nach der Begrüßungsrede erhalten wir einen Schal als weiteres Willkommenzeichen, es folgen weitere Reden der Kinder, Tänze und Lieder, die uns sehr berühren.
Nach dem Mittagessen gibt es den Empfang der Sekundarschule mit weiteren Vorführungen. Wir können den Schülerinnen ansehen, wieviel Freude sie selbst an den Darbietungen haben. Das hat mich persönlich am meisten gefreut!
Um 19 Uhr kommen die Schulbusse der Saint Marys High School um die Kinder abzuholen und nach Hause zu fahren. Denn die Schule befindet sich in einer sehr ländlichen Gegend ohne gute Infrastruktur. Deshalb hat die Schule eigene Busse angeschafft, damit die Kinder abgeholt und nach Hause gebracht werden können.
Wir stehen am Abend gemeinsam mit den Schülerinnen, Schülern, Lehrerinnen und Lehrern auf dem Schulhof und warten auf die Busse. Plötzlich kommen die ersten Kinder mit Stift und Heften auf mich zu und möchten ein Autogramm von mir! Ich wusste bis dahin nicht, dass ich so „prominent“ bin 😉. Natürlich habe ich gerne unterschrieben – es waren gefühlt sicher mehr als 50 Unterschriften.
Viele Schülerinnen und Schüler bitten mich darum, sie mit einem Kreuz auf der Stirn zu segnen. Das fühlt sich für mich erst fremd und seltsam an, aber es bedeutet den Kindern offenbar noch sehr viel, gesegnet zu werden. „Bene-dicere“ ist das lateinische Wort für Segen und bedeutet „Gutes sagen“. So sage ich also dabei etwas Gutes über die Kinder und Jugendlichen – und das dürfte jedem guttun. Ich sage also allen mit einem Kreuz auf der Stirn: „Gott segne dich und lasse dein Leben gelingen“. Und ich bete dafür, dass ER es wirklich tut.
Die von Virginia und Helen gegründete, private Saint Marys High-School lebt von Spenden und der guten Verwaltung. Denn nicht alle Kinder können das Schulgeld bezahlen. Sie sind trotzdem herzlich willkommen, denn gerade sie haben eine Chance verdient.
Die Lehrkräfte verdienen an der Schule weniger als in staatlichen Schulen. Das wird aber von Beginn an klar besprochen. „Hier arbeiten Menschen mit hohen Idealen“, erzählt mir Virginia – und man sieht ihr dabei an, dass sie sehr stolz ist auf ihren „Teachers Staff“. Alle Jugendlichen aus dieser Schule sind sehr gut für das weitere Leben gerüstet. Sie können danach entweder in andere weiterführende Schulen gehen oder werden gerne in Ausbildungsstätten angenommen.
Als wir mit Virginia und Helen zu Abend essen, bedienen uns eine freundliche junge Frau und ein Mädchen. Ich frage, wer beide sind. Die Antwort ist „Eine Lehrerin und eine Schülerin, die einen Stock höher übernachtet.“ Ich finde so heraus, dass einige Kinder so weit weg leben, dass sie nicht jeden Tag von den Bussen abgeholt werden können. Sie übernachten dann in der Schule, obwohl diese kein Internat ist. Aber es ist notwendig – und die Khristsevikas machen es möglich!
Eure Sr. Dorotea